Mystic-Legends – Artikel: [Kurzgeschichte] Tod eines Riesen

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[Kurzgeschichte] Tod eines Riesen

Schon lange zu trieb der Trimadan "Seedrache" ohne Fahrt im dichten Nebel des Wimmermeeres. Das Schiff war zwar mit einer Ruderbank ausgestattet, doch bei der kurzen Sicht grenzte es ohnehin an Selbstmord, sich von der Stelle zu bewegen. Mittlerweile war eine ganze Woche vergangen, seit der Seedrache ordentlich vorwärts gekommen war – dann war diese verfluchte Nebelbank dazwischengekommen und verursachte seitdem nur unnötige Kosten. Die eisernen Reserven waren zwar noch nicht angegriffen, doch wenn nicht bald für Nachschub gesorgt werden würde, müsste Bootsobfrau Nirlassa zumindest eine Rationierung der noch vorhandenen Vorräte anordnen. Außerdem wollten die Matrosen – zumindest die an Leib und Leben freien unter ihnen – täglich eine Münze Lohn sehen, die in ihre Kästchen gezahlt wurde. Und natürlich würde die Fracht – Fässer voller Wein aus den Anbaugebieten der Hagisch – an Wert verlieren, wenn sie im Rumpf des schnellen Handelsschiffes überlagert wurde.

"Wie soll ich das nur Jiriaka erzählen? Die ganze Hanse steht doch sicherlich schon Kopf, wo wir bleiben. Am Ende machen sie sich auf die Suche, weil sie fürchten, wir wären das Opfer von nodoranischen Piraten oder schlimmerem!" Ghastrim, der Magier, den die DAA ihrem Schiff als Begleitung zum noch immer komplizierten Kontinent Pak'Sha mitgegeben hatte, antwortete routiniert: "Es kann nicht mehr lange dauern, bis sich der Nebel lichtet, dann machen wir wieder Fahrt und holen ein bisschen von der verlorenen Zeit auf, indem wir nachts Sonderschichten einlegen lassen. Ich habe es euch vorgerechnet – immer noch besser als wenn der Wein verfaulte!"
Solche Dialoge wurden in letzter Zeit immer häufiger geführt, doch bei kaum einem ging es so heftig zu, wie bei diesem: "Es kann doch nicht euer Ernst sein! Ich sage immer noch, wir müssen jetzt schon weiter, auch auf die Gefahr hin, hier aufzulaufen, wenigstens haben wir es dann probiert und der Mannschaft etwas halbwegs Sinnvolles zu tun gegeben. " Der Magier in seiner grauen Alltagsrobe schüttelte bedächtig den Kopf und konterte: "Was mag dann eure Hanse, eure geliebte Jiriaka, von euch denken, wenn sie erfahren, dass ihr aus Langeweile euer Schiff, die Mannschaft und die Ladung aufs Spiel gesetzt habt."
Glücklicherweise kam Nirlassa in ihrer Ungeduld der Schiffsjunge Nerob, ein großer, breitschultriger Kerl, der kaum durch die Tür in die Kajüte passte, zu Hilfe. Kaum angekommen und nach knapper Begrüßung der Anwesenden durch ein flüchtiges Kopfnicken enthüllte er: "Der Nebel lichtet sich, wir haben dreißig Schritt Sichtweite. Das solltet ihr euch besser ansehen, wir haben uns in der Nacht offenbar ein wenig bewegt, der Bootsmann vermutet, der Anker habe sich nicht richtig verhakt."

Am zentralen Bug des Seglers offenbarte sich ein beeindruckender Anblick: Zwar war noch kein Land oder keine Klippen zu sehen, doch befand sich direkt vor der Seedrache ein dunkler Schatten, der sich im morgendlichen Nebel deutlich abzeichnete – es sah glatt aus, als hätte sich eine massive Wand vor dem Handelsschiff aus dem Wasser geschoben. Schnell wurde beschlossen ein Beiboot zu Wasser zu lassen und zu schauen, wie zu manövrieren war, um dem Hindernis zu entgehen. Die Matrosen legten sich motiviert in die Riemen und waren binnen weniger Schläge angekommen. Obwohl der Nebel in der Luft alle Geräusche dämpfte, war doch ein metallisches Aufprallen zu hören und alle Leute an Deck hielten den Atem an.
"So eine verdammte...!" War zu hören. "Das ist ja Eisen, nein Stahl! Es ist Stahl! Und es ist hohl!" Ließ sich die Stimme des Bootsmannes vernehmen. Erneut erklang metallisches Scheppern, diesmal intensiver, ein Matrose schlug mit dem Blatt seines Riemens gegen das Objekt. "Das ist ein Schiff! Ein komplettes gewaltiges Schiff nur aus Metall!"
Schnell gelangte der Erkundungstrupp wieder an Bord. Nach dem Bericht der Männer wollte die Bootsobfrau eine kleine Mannschaft zusammenstellen, die das Artefakt – denn nur um ein solches konnte es sich angesichts der Tatsache, dass ein komplette Schiff aus Stahl bestand, handeln – erkunden und eventuell ausschlachten sollte. Auf diese Weise würde die Fahrt wenigstens doch noch lukrativ werden. Nachdem sich keine Freiwilligen fanden, versprach Nirlassa eine geringe Beteiligung am Gewinn, suchte danach drei Matrosen aus und stellte sie dem Bootsmann und dem Magier zur Seite.

"Ich muss euch bitten, die Seedrache unterdessen zu wenden und zur Abfahrt klar zu machen, falls wir dort drüben auf Gefahren stoßen sollten, die uns jetzt noch nicht klar sind – damit ihr euch im Notfall schnell davonmachen könnt." Der Magier sprach damit zwar nur eine Empfehlung aus, doch seine Stellung als Vertreter des Bundes vom Allsehenden Auge fügte einen unterschwelligen Befehlscharakter hinzu, sodass die Bootsobfrau schließlich die entsprechenden Befehle gab.
Mittlerweile hatte sich der Nebel vollends gelichtet – im Norden sah man verschwommen die Küste – sodass man nun das einst rot-blau angemalte, nun aber verrostete Ungetüm am Heck des Handelsschiffes sehen konnte. Einige Ruderschläge hatten die Seedrachen gewendet und die Bänke blieben weiterhin voll besetzt, um auf alles vorbereitet zu sein. Der Erkundungstrupp fand rasch eine Leiter, die außen an den Rumpf des alten Schiffes geschweißt war und verschaffte sich darüber Zutritt. Dann hörte die Mannschaft des Trimadans nichts mehr von ihren Kameraden. Der Mann im Sturmtrutz, dem Ausguck des Schiffes, versuchte immer angestrengter, etwas nützliches an Deck des anderen Wasserfahrzeugs zu entdecken, doch dieses war durch die Stürme der Jahrzehnte nach der Katastrophe verwüstet und leergefegt – verschlissen durch Gischt und Seeluft.

Vielen Kehlen entrang sich ein mehr oder weniger glücklicher Ausruf, als drei kreidebleiche Gestalten und wenig später auch Ghastrim die Leiter zum Beiboot herabstiegen und wortlos wieder zur Seedrache übersetzten. Nachdem das Ruderboot wieder geborgen war, tuschelte der Magier der Bootsobfrau im Vorbeigehen ins Ohr und verschwand dann mit zufriedenem Gesichtsausdruck unter Deck.
Nirlassa wurde bleich, presste die Lippen aufeinander und blickte ihm noch einen Augenblick nach. Dann schrie sie – obwohl ihr beinahe die Stimme zu versagen drohte – „Also los! Machen wir, dass wir hier wegkommen.“ Also die Mannschaft an Deck sie nur mit großen Augen anglotzte, kam ihr zu ihrer Erleichterung der Bootsmann zu Hilfe: „Ihr habt sie gehört, also an die Arbeit!“

Matrose Hilianosh war unterdessen freigestellt worden und hatte einen Augenblick allein unter Deck bei seiner Hängematte – geschickt ließ er die metallene Dose, offensichtlich einen Nordweiser, wie ihn die alten Geschichten immer enthalten, und die zusammengefalteten Papiere in seinem wasserdichten Seesack verschwinden. Mit diesen Seekarten würde er, wenn er erst ein eigenes Schiff kommandieren könnte, zu einer Berühmtheit werden, als großer Entdecker einen Namen bekommen.
Ein paar Schritt von ihm entfernt unterhielt sich unterdessen leise der Bootsmann mit einem anderen Matrosen: „Was er ihr gesagt hat? Sie hat nur gemeint er habe ihr folgendes zugeraunt: Wir beide wissen es – dieses Schiff ist eine der Gefahren, vor dem das allsehende Auge immer gewarnt hat. Ich habe meine Pflicht getan, nun kommt eurer Pflicht nach und schafft und fort hier.“ Der Matrose blickte ihn neugierig an: „Und? Was soll das bedeuten?“.
Nur an Deck konnte man noch – seit dem schnellen Aufbruch war etwa die Hälfte einer Stunde vergangen – das Geräusch in der Ferne hören, als die Explosion den Tanker zerriss. Es klang, als scheide ein gewaltiger Riese aus dem Leben und formte mit seinem letzten Atem einen kurzen Klageschrei.

Geschrieben am 29.04.2007 und zuletzt am 30.04.2007 verändert